Böblinger Traditionen
In dieser Ausgabe des Einblicks in die Stadtgeschichte berichtet Stadtarchivar Dr. Christoph Florian über das Böblinger Brauchtum.
Als im 19. Jahrhundert aufgrund der industriellen Entwicklung und deren Auswirkungen das althergebrachte Brauchtum immer mehr zurückging, kamen Bestrebungen auf, das durch den Verlust Bedrohte wenigstens zu dokumentieren. Auch in Württemberg gab es solche Bemühungen. Der Tübinger Germanistikprofessor Karl Bohnenberger (1863-1951) initiierte ein Forschungsvorhaben zur Dokumentation des württembergischen Brauchtums. Daraufhin sammelten im Jahr 1899 Volksschullehrer in ganz Württemberg im Rahmen ihrer beruflichen Fortbildung und anhand eines vorgefertigten Fragebogens die Nachrichten über alte Traditionen und Überlieferungen. In sogenannten Konferenzaufsätzen hielten sie ihre Ergebnisse fest. Über die Sammlung Dagersheimer Brauchtums wurde im letzten Einblick im Dezember 2017 berichtet. In dieser Ausgabe werden jetzt Böblinger Bräuche und Überlieferungen vorgestellt.
Für Böblingen berichtete der Oberlehrer Johann Adam Wandel, der in dieser Stadt schon 25 Jahre als Lehrer gewirkt hatte. Zu Beginn seiner auf den 25. November 1899 datierten Aufzeichnungen wies er darauf hin, dass es in Sachen „volkstümlicher Überlieferungen“ in Böblingen „wenig zu erforschen“ gäbe. Er vermutete den Grund dafür in der Nähe zu Stuttgart. Dennoch konnte er eine ganze Reihe von wertvollen Informationen aus dem alten Böblingen festhalten.
"Citrone" und Taschentuch
Zunächst berichtet er über Sitte und Brauch im Alltagsleben. So erfahren wir u. a., dass die Böblinger damals zwischen 5.00 und 6.00 Uhr aufstanden und zwischen 9.00 und 10.00 Uhr abends zu Bett gingen. Ebenfalls unter der Rubrik Sitte und Brauch werden als Tauftermin der 1. oder 2. Sonntag nach der Geburt genannt. Geheiratet wurde unter der Woche am Dienstag oder Donnerstag, am beliebtesten war jedoch der Samstag. Dem Mond wurde der Einfluss auf menschliche Krankheiten und ihrem Wechsel zugeschrieben. Es gab deswegen die Redewendung „Er geht mit dem Mond“. Interessant ist die Mitteilung, dass die Leichenträger als Entlohnung für ihre Tätigkeit eine „Citrone“ und ein Taschentuch oder Geld erhielten. Die Trauerzeit umfasste damals ein Jahr.
Die geltenden Wetterregeln waren laut Bericht keine Böblinger Besonderheit. So hieß es zum Beispiel „Weihnachten im Schnee, Ostern im [Klee ]“ oder „Lichtmeß [2. Februar] Sonnenschein, bringt noch mehr Schnee herein“.
Der unglücksbringende Hase
Unter dem Titel „Glaube und Sage“ konnte Wandel ebenfalls einiges berichten. So sollte es in der Flur Mönchsbrunnen Waldgeister geben, die sich in verschiedenen Gestalten zeigten. Der Oberlehrer vermutete, dass diese Sage von einem „boshaften Wilddieb“ (Wilderer) in Umlauf gesetzt worden war, damit er umso ungestörter seinen Untaten nachgehen konnte. Viele Böblingen glaubten damals an die Bedeutung von Träumen. Nach dem Volksglauben brachte eine Schafherde, der man begegnete, Glück, während ein Hase, der einem über den Weg sprang, Unglück brachte. Dann kursierte in Böblingen die Erzählung vom Untergang einer Burg. Sie hatte unweit des heutigen Waldfriedhofs gestanden und das Gelände wurde noch zur Zeit der Abfassung des Berichts als „alte Bürg“ bezeichnet. So heißt es übrigens auch heute (2018) noch. Einer Sage nach sollte es noch einen unterirdischen Gang vom Schloss in den Wald gegeben haben. Schließlich erwähnt Oberlehrer Wandel die Überzeugung der Böblinger, dass ein Komet Vorzeichen für einen Krieg sein konnte.
Der Oberlehrer konnte auch von einem „eigentümliche[n] Fangspiel“ der Böblinger Jugend berichten. Vermutlich wurde es oft in der damals noch auf dem Schloßberg liegenden Volksschule, dem Arbeitsort des Dokumentars, gespielt. Es hieß „Alle meine Schafe, kommt nach Haus!“ Dieses kostbare Beispiel einer eigenständigen Böblinger Spielkultur sei hier in den Worten des Oberlehrers wiedergegeben: „Ein Schüler ist der Herr der Schafe, ein anderer der Wolf. Letzterer muß sich auf die Seite stellen. Der Herr ruft: Alle meine Schafe, kommt nach Haus! Diese erwidern: Wir können nicht! Der Herr fragt: Warum denn nicht? Die Schafe antworten: Der Wolf ist da! Der Herr fragt: Was thut er euch? Antwort: Er frißt uns. Herr: Was frißt er? Antwort: Menschenfleisch! Herr: Was trinkt er? Antwort: Menschenblut! Dann ruft der Herr Alle meine Schafe, kommt nach Haus! Nun eilen alle zu ihrem Herrn. Der Wolf aber sucht, ein Schaf zu erhaschen und, wenn es ihm gelingt, ist das der Wolf fürs nächste Spiel.“
"Komm, Gei Gei Gei!"
Am Ende geht der Text von Wandel auf die Mundart ein. Der Stadtnamen wurde „Böblinga“ ausgesprochen. Es sind auch einige „merkwürdige“ Flurnamen notiert, z. B. „beim toten Mann“ (Bereich östlich der stillgelegten Mülldeponie) oder „im Quentsch“ (Bereich Kreiskrankenhaus). Sprachliche Ironie zeigt sich in Bezeichnungen aus dem gewerblichen Bereich, da gab es „Riesenbäcker“ und „Riesenmetzger“. Leider teilt der Dokumentar nicht mit, ob jetzt der Gewerbetrieb oder ihr Inhaber klein waren. Wandel teilt sogar die Ruf- und Locknamen für Haustiere mit. Die Gänse bekamen „Komm Gei, Gei, Gei!“ zu hören, während die Hühner mit „Komm Bi, Bi, Bi!“ gelockt wurden.
Etwas fatalistisch ist die Bedeutung von „S ischt wie ‘s ischt!“. Ein wenig schwerfällig gibt der Oberlehrer den Hintersinn wieder: „Es kann nach den obwaltenden Umständen nicht anders sein.“ Eine weitere überlieferte Redewendung ist für uns heute schwerer verständlich: „Mer hoaßt koan Stier Bläß, er muaß zum wenigsta a Stearnle hau“ (Man heißt keinen Stier Kuh mit einem Flecken [auf der Stirn], außer er hat ein Sternlein bzw. Flecklein [dort]). Das heißt, dass eine Anschuldigung nicht unbegründet sei. Eine weitere Redewendung lautete: „Kleine Häfela laufa bald über“ (Kleine Töpfe laufen bald über). Dies bedeutet, dass kleine Personen leicht reizbar sind. Der Wolf schlich sich offenbar des Öfteren durch das Böblinger Brauchtum, denn es hieß damals: „Wenn ma den Wolf nennt, kommt er gerennt.“ Unser gewissenhafter Dokumentar übersetzte das folgendermaßen: „Es trifft sich, daß die Person, von der man etwas aussagt, gerade zur Thüre herein kommt und man deshalb die Erzählung nicht beenden kann.“