Fridolin, Maria oder Agatha?: Das Rätsel um die Kirchenheiligen von Dagersheim

Im aktuellen Beitrag zum „EinBlick in die Stadtgeschichte“ befasst sich Stadtarchivar Dr. Christoph Florian mit den Schutzheiligen oder Kirchenheiligen der evangelischen Kirche in Dagersheim.

Im traditionellen (katholischen) Kirchenverständnis - Dagersheim gehörte bis 1534 dieser Konfession an - sind Heilige Menschen, die aufgrund ihres vorbildlichen Lebenswandels und Glaubens schon zu Lebzeiten oder nach ihrem Tod Wunder wirken können. Man hat sie deshalb gerne als Beschützer für Einrichtungen (Kirchen, Universitäten u. a.) genommen. Das lateinische Wort dafür heißt Patrozinium (Schutzherrschaft) und weist daraufhin, dass die Einrichtung dem Heiligen damit gewissermaßen unterstellt war.

Reformation und Heiligenverehrung

In der protestantischen Lehre gibt es keine Heiligenverehrung, doch mussten die Reformatoren angesichts der großen Popularität der Heiligen Kompromisse eingehen. Die Verehrung Verstorbener bzw. deren Glorifizierung ist vielen Menschen einfach ein Bedürfnis. So erkannten die evangelischen Reformatoren schon im 16. Jahrhundert Heilige als Personen mit vorbildlichem christlichen Glauben und Lebenswandel an. Die Verbindung einer Kirche mit einem Heiligen war auch im evangelischen Württemberg im Bewusstsein der Gläubigen und der Lokalverwaltung fest verankert. Viele Kirchen wurden weiterhin mit ihrem alten Namen benannt. So wird die Böblinger Stadtkirche 482 Jahre nach Einführung der Reformation in Württemberg (1534) offiziell immer noch nach ihrem mittelalterlichen Schutzheiligen St. Dionysius bezeichnet.

Zu den einzelnen Patrozinien der Dagersheimer Kirche und deren Bedeutung gibt es in der Ortsgeschichtsforschung unterschiedliche Meinungen. Nach Friedrich Essig, dem Verfasser der ersten Ortsgeschichte, war Sankt Nikolaus möglicherweise der erste Hauptheilige (oder Titelheilige). Als einen weiteren Hauptheiligen vermutet er den für 1323 durch ein Kirchensiegel nachweisbaren Johannes den Täufer. Solche Heiligen waren gewissermaßen für die ganze Kirche zuständig. Seit 1491 war es dann der heilige Fridolin (gestorben 538), der spätantike Gründer des Klosters Säckingen, dem davor nur ein Nebenaltar geweiht gewesen war. Zusätzliche Nebenheilige waren dann Margaretha, Antonius, Katharina, Benedikt, Maria sowie Agatha.

Die Universität und ihre Heiligen

Nach dem ehemaligen Herrenberger Stadtarchivar Roman Janssen hingegen war seit 1491 nicht Fridolin sondern Maria das Patrozinium der Kirche. Der Grund für die neue Hauptheilige lag danach in politischen Veränderungen. Bis in das 15. Jahrhundert hatte das Martinsstift (geistliche Einrichtung) in Sindelfingen das Patronatsrecht (Schirmherrschaft) der Dagersheimer Kirche besessen. 1477 wurde die damals noch katholische Universität Tübingen Rechtsnachfolger des Stifts und nahm den Plan zum Umbau der maroden Kirche wieder auf und trieb ihn tatkräftig voran. 1491 war das Projekt beendet. Die Kirche wurde neu geweiht und Maria zur neuen Schutzpatronin erhoben. Zusätzlich wurde Katharina als weitere Schutzheilige aufgenommen. Nach Janssen standen Interessen der Universität Tübingen dahinter, denn Maria war die Schutzheilige der theologischen und Katharina diejenige der philosophischen Fakultät.

Wie schon oben erwähnt gab es Nebenheilige. Sie hatten innerhalb der Kirche einen festen Ort, so war Fridolin ein Nebenaltar gewidmet und ebenso Nikolaus. Janssen geht davon aus, dass 1491 auch die heilige Katharina und möglicherweise ebenso Magnus und Margaretha mit Nebenaltären versehen wurden. Drei Heilige wurden dadurch hervorgehoben, dass ihre Altäre mit Pfründen versehen worden waren, nämlich Fridolin und Katharina (vor 1429 bzw. vor 1518/19) sowie Nikolaus. Pfründen waren Sondervermögen, die zur Finanzierung von seelsorgerischen Leistungen (z. B. Messen) dienten.

Fridolin und die Schlangen

Bei der Neuweihe 1491 wurden nun die beiden älteren Nebenheiligen Nikolaus und Fridolin beibehalten. Letzterer, schon 1422 als Nebenheiliger nachweisbar, erlangte bei den Gläubigen größte Popularität. Seine "örtliche Legende" vermischte sich nach Janssen mit der des heiligen Pirmin, dem Gründer des Klosters Reichenau. Und so wie Pirmin 724 nach der Legende die Schlangen (Symbol des Bösen) von der Insel Reichenau vertrieb, so soll Fridolin die Schlangen und das unreine Getier aus der Schwippe vertrieben haben. Trotz der großen Beliebtheit Fridolins bei den Dagersheimern blieb jedoch Maria die Titelheilige. Weitere untergeordnete Heilige seit der Neuweihe 1491 waren nach Janssen die schon erwähnte Katharina, sowie Magnus (statt Benedikt) und Margaretha, nicht jedoch Antonius und Agatha.

Die Ausführungen Janssens beruhen nicht zuletzt auf die Interpretation der heute noch zu sehenden sechs Schlusssteine im Chorgewölbe der Kirche. Die dort abgebildeten Heiligen können oft nur an ihren Attributen erkannt werden. So ist z. B. Fridolin durch die Schlange an seiner Hand erkennbar, während z. B. ein beigefügtes Rad eindeutig auf die heilige Katharina verweist.

Verkompliziert wird die Situation durch die spätantike heilige Agatha von Catania (gestorben 225). Der Nachweis auf ihr Patrozinium stammt aus einer Zeit, als es längst keinen (offiziellen) Heiligenkult mehr gab (1760). Auf den Schlusssteinen des Dagersheimer Kirchenchors ist sie auch nicht dargestellt. Gab es dieses Patrozinium schon vor 1491 oder ist es erst zwischen 1491 und 1534 neu dazugekommen und wurde Agatha überhaupt zur Hauptheiligen? Für die Dagersheimer Geschichtsforschung gibt es noch einige Rätsel zu lösen.

Am Ende bleibt noch die Frage, gegen oder für was die Heiligen konkret helfen sollten. So galt z. B. Katharina als Beschützerin der Mädchen, Jungfrauen, Heiratswilligen und Ehefrauen, Helferin bei Krankheiten der Zunge, bei Kopfschmerzen und Migräne und Schutzherrin der Gelehrten und Handwerksberufe. Margaretha war ebenfalls die Helferin der Mädchen und Jungfrauen sowie der Gebärenden, der Bauern und Hirten und der an Wunden Leidenden. Der Heilige Fridolin hingegen war zuständig für die Schneider und das Vieh, er galt auch als Beschützer gegen Feuer- und Wassergefahr, Viehseuchen, Kinderkrankheiten, Bein-, Knie- und Armleiden. Die große Anzahl der manchmal sich überschneidenden Schutzeigenschaften lässt die Vielzahl der Nöte erkennen, mit denen die Dagersheimer in ihrer bäuerlichen Lebenswelt konfrontiert waren. Ebenso zeigen die Unterschiedlichkeit der Schutzeigenschaften, dass es bei dem Heiligenkult nicht um die Erhaltung des Kirchengebäudes ging, sondern – abgesehen von politischen Interessen – um die Hilfe für die Menschen, die dort zusammenkamen.

Die Redaktion bedankt sich herzlich bei der evangelischen Kirchengemeinde Dagersheim, für die Möglichkeit in ihrer Kirche fotografieren zu können.

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