„stylwidrige Veränderungen“: Böblingen im Spiegel der Oberamtsbeschreibung von 1850
Im vorliegenden Einblick in die Stadtgeschichte stöberte Stadtarchivar Dr. Christoph Florian in dem Band der 1850 erschienenen „Beschreibung des Oberamts Böblingen".
Als Württemberg sich innerhalb kürzester Zeit in der "Napoleonischen Zeit" nahezu verdoppelt hatte und vom Herzogtum zum Königreich (1806) wurde, entwickelte sich ein Interesse an den neu erworbenen Gebieten. Mit aus diesem Grund entstand die von dem „Königlichen Topographischen Bureau“ herausgegebene Publikationsreihe der Oberamtsbeschreibungen. Die Oberämter waren die Vorgänger der heutigen Landkreise. Die Beschreibungen enthalten statistische Angaben über Einwohner, Besitzgröße, Gebäude- und Tierbestand, sie berichten über geographische und geschichtliche Gegebenheiten, Klima, Flora, Fauna und vieles andere mehr. Nachfolger der Oberamtsbeschreibungen wurden dann die Kreisbeschreibungen, die bis vor wenigen Jahren herausgebracht wurden.
Das erste Werk war dem Oberamt Reutlingen (1824) gewidmet. Das allgemeine Interesse umfasste jedoch nicht nur die neu zu Württemberg hinzugekommenen Gebiete (wie Reutlingen), sondern auch solche, die schon sehr lange dazu gehört hatten, wie z. B. das Oberamt Böblingen. Es war im Jahr 1850 an der Reihe. Verfasser war Karl Eduard Paulus (1803-1878), Mitarbeiter des topographischen Büros. Anhand der von ihm verfassten Schilderung Böblingens soll ein Stadtbild, so wie sie sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts präsentierte, skizziert werden.
Ein stattliches Dorf
Vom Gesamteindruck der Kernstadt war Paulus nicht sehr angetan und schrieb: „Die unregelmäßig angelegte innere Stadt ist größtenteils uneben, hat enge, winkelige Straßen und mit Ausnahme der öffentlichen meist alte und unansehnliche Gebäude.“ Und weiter heißt es „Die Vorstädte mit ihren breiten Straßen gleichen mehr einem stattlichen Dorf […]“
Auch an der Stadtkirche gab es einiges rumzumäkeln. Danach waren an der Kirche, die „aus grobkörnigem Keupersandstein im germanischen (gothischen) Style erbaut“ worden war, „stylwidrige Veränderungen“ vorgenommen worden. Sehr wertvoll ist die Beschreibung des Kircheninneren, ist dieses doch 1943 vollständig vernichtet worden. Da wird zum Beispiel ein altes Grabdenkmal der Stadtherren aus dem Geschlecht der Tübinger Pfalzgrafen erwähnt. Es trug folgende lateinische Aufschrift „Anno Do[mi]ni MCCCXXXVI OBIIT HAINRIC[US] COMES PALATINUS DE TUWINGEN“. Auf Deutsch: Im Jahr des Herrn 1336 ist Heinrich, Pfalzgraf von Tübingen, gestorben.
Der verbliebene Rest des Schlosses konnte unseren Verfasser ebenfalls nicht zufrieden stimmen, er schrieb nämlich, dass „von dem ehemaligen stattlichen Schloß nur noch der massiv gebaute südliche Flügel übrig geblieben ist.“ Zudem barg dieser im Inneren keine historischen Gegenstände, wie z. B. die „schön eingelegte, mit Schnitzwerk versehene Himmelbettlade des Herzog Christoph“, die nach dem Erwerb des Schlosses durch die Stadt 1818 – zur Verwunderung des Autors - für 48 Kreuzer an einen Schreinermeister verkauft, besser gesagt: verramscht worden war.
Gelobt hingegen wird das aus acht laufenden und drei Pumpbrunnen gewonnene Trinkwasser. Der Marktbrunnen (Christopherusbrunnen) lieferte dabei das beste Nass. Paulus erwähnt auch eine intakte Teichellage (Holzwasserleitung), die anlässlich der Reinigung des Ablasses des Unteren Sees gefunden wurde. Sie führte Schwefelwasser, das wohl ursprünglich dem Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr betriebenem Bad zugeleitet worden war. Von dem Bad am heutigen Elbenplatz war um 1850 noch ein Gebäude vorhanden.
Kann die Oberamtsbeschreibung der Altstadt nicht viel abgewinnen, so wird die Gesamtansicht Böblingens mit den beiden Seen positiv vermerkt: „der obere und untere See, […] die der Gegend, hauptsächlich aber der ohnehin freundlichen Ansicht der Stadt von der Südseite, einen besonderen Reiz verleihen.“
Torfabbau auf der Hulb
Karl Eduard Paulus ging auch auf ein heute wenig bekanntes Kapitel der Stadtgeschichte ein. Er beschreibt den Torfabbau, der seit 1832 auf dem Gebiet der Hulb betrieben wurde. Der Torf bildete eine acht bis zehn Zoll (2,30 bis 2,85 Meter) dicke Schicht. Es wurden jährlich eine Million oder mehr Wasen (Torfbriketts) gestochen.
Bemerkenswert ist auch das Kapitel zur Bevölkerung des kleinen Amtsstädtchens, die damals (im Jahr 1848) 3.681 Personen umfasste. Davon waren 1775 männlichen und 1906 weiblichen Geschlechts. Die Einwohnerschaft war übrigens fast rein evangelisch, es gab lediglich neun Katholiken und sieben Juden.
Die Oberamtsbeschreibung hebt dabei den guten Gesundheitszustand der Bewohner hervor, dessen Ursache laut Verfasser in der guten Luft lag. Dann macht sich Paulus an die Beschreibung der Böblinger selbst. Demzufolge war der „Menschenschlag […] kräftig und im Allgemeinen wohlgebaut“. Selbst über den Charakter der Stadtbewohner wurde ein Urteil gefällt. Danach waren die „Ortseinwohner durchschnittlich aufgeweckt, fleißig und sehr betriebsam.“ Es folgt ein Lob auf die Lernfähigkeit der Böblinger: „übrigens zeugen für die Bildungsfähigkeit Aller die guten Fortschritte der Kinder in den Schulen.“ Volkskundliches findet ebenfalls Interesse und es wird das Thema Tracht gestreift. Danach herrschte damals schon die städtische Kleidermode vor, lediglich Bauern trugen noch die traditionellen Lederhosen und den dreieckigen Hut.
Zwetschgen und Kirschen
Auch aus der Landwirtschaft gab es Interessantes zu berichten. So waren gerade die Streuobstwiesen groß im Kommen. Es herrschte dabei das Mostobst vor. Doch wurde auch Tafelobst (ohne Zubereitung zum Verzehr geeignet), darunter viel Zwetschgen und seit neuester Zeit (also kurz vor 1850) Kirschen, angebaut. Der Obstertrag auf der Gemarkung Böblingen betrug 1847 beeindruckende 200.000 Simri, das waren 4.431 Tonnen.
Im Abschnitt zum Gewerbe lassen sich schon die ersten Vorboten des späteren Böblinger Wirtschaftswunders erkennen. Paulus nennt hier die Firma Bonz und Sohn, die u. a. „Mineral- und andere Säuren, Alcaloiden, Aetherarten, Mercurial- [Quecksilber] und Metall-Präparate, Chloroform, Kreosot, Extracte, Salze ätherische Oele“ sogar bis nach Amerika lieferte. Bei dem Kreosot handelte es sich übrigens um ein aus fossilen Brennstoffen oder Holz gewonnenes Stoffgemisch, das bei der Holzkonservierung oder in der Medizin (Mund-, Zahn- oder Magenleiden) angewandt wurde. Die Gewerbeliste nennt dann neben heute noch geläufigen Berufen wie Apotheker oder Bierbrauer auch nahezu vergessene Tätigkeiten wie Bortenwirker, Lithographen oder Siegellackfabrikanten.
Sehenswürdigkeiten der Umgebung fanden ebenfalls Eingang in dem Kapitel. So das 1832 von Gottfried Dinkelacker erbaute Wirtschaftsgebäude, welches „wegen seiner hohen Lage und des nahe gelegenen Waldes den Namen Waldburg“ bekam. Es war bekannt für seine „schöne Rundsicht“ und das „treffliche Bier“, welches dort gereicht wurde. Auch die Diezenhalde gehörte damals zur Umgebung und bot eine „sehr malerische Aussicht“ auf die Stadt.