„Polnische Kindergräber“ auf dem Alten Friedhof
Am Ende des alten Abteils des Alten Friedhofs, nahe einem Brunnen steht zum Teil durch einen Baum beschattet eine einsame Gruppe von 32 Grabsteinen. Einige Steine sind verwittert und kaum lesbar, andere wiederum wurden durch neue Grabsteine ersetzt. Auf einigen Gräbern sind kleine Engelsfiguren angebracht. Ein Blick auf die in Stein gemeißelten Lebensdaten zeigt, dass es sich hier ausschließlich um Kindergräber handelt. Manche Kinder starben unmittelbar bei der Geburt, andere wurden wenige Jahre alt.
Es handelt sich hier um die Gräber polnischer Kinder sowie eines kleinen deutschen Jungen. Die Grabstätten sind etwa zwischen 1945 und 1950 entstanden. Der nachdenkliche Betrachter fragt sich natürlich, welche Schicksale dahinter stehen. Warum sind die Kinder gestorben, wo kommen sie her, wer sind ihre Eltern, wo haben sie gewohnt und warum befinden sich die Kindergräber ganz einsam in dieser Ecke?
Hinweise dazu finden sich in den standesamtlichen Sterbebüchern, welche im Stadtarchiv liegen.
Dort sind die Lebensdaten einiger Kinder schriftlich festgehalten. Sie starben an damals für Kinder nicht ungewöhnlichen Ursachen, wie z.B. Keuchhusten oder angeborenen Erkrankungen. Die Gemeinsamkeit der meisten Kinder besteht darin, dass die Kinder und ihre Eltern im so genannten Polenlager lebten. Was hat es mit dem Lager auf sich? Dieses Lager wurde nach seiner Einrichtung 1945 zunächst von der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRA) betreut, welche sich nach dem Zweiten Weltkrieg um Flüchtlinge kümmerte. Damals gab es in Deutschland zahllose Menschen, vor allem aus Osteuropa und anderen Teilen, welche zur Zwangsarbeit verschleppt worden und Insassen von Konzentrationslagern gewesen waren oder aus sonstigen Gründen fern ihrer Heimat waren. Es handelte sich um die so genannten Displaced Persons (DP). 1947 übernahm dann die Nachfolgeeinrichtung die International Refugee Organization (IRO) die Lager. Aufgaben der UNRA und dann der IRO waren die Betreuung der Lager und vor allem die Zurückführung der DPs in deren Heimat und später die Organisation der Auswanderung nach Übersee oder Integration in Deutschland.
Das DP-Lager in Böblingen befand sich auf dem Flugfeld. Es handelte sich dabei genau genommen um zwei Lager, eines für russische und eines für polnische DPs. Im Juli 1945 umfasste das russische Lager 2.800 Bewohner, während es im polnischen Lager 82 Personen waren. Die Bewohner wurden mit Nahrungsmitteln versorgt. Ebenso bekamen sie medizinische Betreuung, so gab es im Lager eine Krankenstelle mit Ärzten und Schwestern. Zusätzlich wurden Lagerbewohner im Böblinger Kreiskrankenhaus oder im Sindelfinger Krankenhaus behandelt. Im Böblinger Krankenhaus sind dann nachweislich einige der Kinder des polnischen Lagers gestorben. Die hygienischen Verhältnisse im Lager waren sicherlich nicht gut. Ein Teil der DPs lebte außerhalb des Lagers.
Das DP-Lager auf dem Flugfeld bestand bis zum Jahr 1950, gemäß einer Anordnung der Militärregierung musste es dann bis zum 15. Oktober 1950 geräumt werden. Die noch verbliebenen 580 Personen mussten in denjenigen Orten untergebracht werden, in denen sie – bzw. die erwachsenen Lagerbewohner – arbeiteten.
Ursprünglich waren die heute bestehenden Kinder gräber von anderen Kindergräbern umgeben, denen dieser Bereich des Friedhofs vorbehalten war.
Nach und nach wurden die anderen Kindergräber aufgelassen, so dass am Ende nur noch die vereinzelte Gruppe von Gräbern übrig blieb. Die Gräber polnischer Kinder wurden dann als „öffentliche Gräber“ aufgrund der Schutzbestimmungen des „Gesetzes über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ (kurz Gräbergesetz) von 1965 vor der Auflassung geschützt und blieben daher bis heute bestehen. In den Jahren 1998 und 1999 wurden aufgrund einer Anregung aus der Böblinger Bürgerschaft heraus die mittlerweile verwitterten Grabsteine restauriert oder wenn nicht mehr vorhanden, durch neue ersetzt.
So sind die Kindergräber auf dem Alten Friedhof uns auch heute noch letztendlich eine anrührende Erinnerung an die Grausamkeiten und Verbrechen im Zweiten Weltkrieg sowie deren mittelbare und unmittelbare Folgen.