Geschichte hautnah - Schüler recherchieren Euthanasieopfer
Ende Juni wurde zum Andenken an Berta Kettenmann vor der Stadtbibliothek "Im Höfle" ein Stolperstein verlegt. Initiiert wurde die Verlegung von der "AG Stolperstein". Nicole Prokoph und Saskia Scherer, zwei Mitarbeiterinnen der Initiative, berichten in diesem Artikel über die Geschehnisse der Euthanasie, Bertas Schicksal sowie über die Arbeit der "AG Stolperstein".
Die „AG Stolperstein“ dreier Böblinger Gymnasien - bestehend aus Nicole Prokoph und Saskia Scherer (Max-Planck-Gymnasium), Judith Grund (Lise-Meitner-Gymnasium), Sebastian Manstetten (Otto-Hahn-Gymnasium), der Geschichtslehrerin Susanne Söhn-Rudolph und dem Lehrerehepaar Hülsmann - beschäftigt sich seit fast einem Jahr mit dem Schicksal eines weiteren Böblinger Euthanasieopfers, nämlich mit Berta Kettenmann. Das Projekt leitet sich von der Stolperstein-Initiative Stuttgart ab. Dabei handelt es sich um eine Gruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Bürger/-innen aus Stuttgart und der Umgebung auf die Opfer des Nationalsozialismus aufmerksam zu machen. Im vergangenen Jahr wurde bereits ein Stolperstein für Rudolph Oehler, der ebenfalls der Euthanasie zum Opfer fiel, verlegt. Auch dieses Mal war der Leiter des Böblinger Stadtarchivs Dr. Christoph Florian eine große Hilfe bei der Aufarbeitung der Geschichte eines weiteren Euthanasie-Opfers.
Das Puppenmütterchen
Berta Kettenmann, das jüngste von insgesamt fünf Kindern, wurde am 29. Januar 1908 als Tochter von Johanna Braun geboren. Die kleinwüchsige Berta, mit sieben Jahren erst 95 Zentimeter groß, konnte eigensinnig und zornig sein. Man vermutete, dass Bertas geistige und körperliche Schwäche auf eine Hirnhautentzündung im zweiten Lebensjahr zurückzuführen war. Im Jahr 1915 wurde Berta in die Heilanstalt Stetten eingewiesen, da die Mutter nicht mehr für das Kind sorgen konnte. In einem Bericht der Heilanstalt Stetten wurde festgehalten, dass Berta gerne mit Puppen spielte und oft von ihrer Mutter besucht wurde. 1924 wurde Berta als arbeitsunfähig eingestuft und ihre geistigen Fähigkeiten wurden als denen eines fünfjährigen Kindes entsprechend bezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt war sie 16 Jahre alt. Am 18. September 1940 wurde Berta mit dem zweiten Transport von Stetten nach Grafeneck „verlegt“, wo sie noch am selben Tag ermordet wurde. Bertas Mutter wurde von Grafeneck über den Tod ihrer Tochter in Kenntnis gesetzt. Daraufhin schrieb sie einen Brief an die Heilanstalt Stetten, in dem sie den Tod ihrer Tochter hinterfragte, da diese im August noch völlig gesund gewesen war. In der Antwort bedauerte Stetten den Tod Bertas sehr „…denn das Bertale war uns allen lieb. Man sah sie immer mit ihren Puppen spazieren gehen und auch fremde Besucher, die in die Anstalt kamen, freuten sich an diesem Puppenmütterchen.“
Persönliche Eindrücke und Recherche
Bei einem ersten Besuch im Böblinger Stadtarchiv erhielten wir den Namen und nähere Daten zu Berta. Daraufhin begaben wir uns zur Recherche in die Diakonie Stetten, in der Berta längere Zeit lebte. Pfarrer Binder von der Diakonie ermöglichte unserer Gruppe einen Einblick in das heutige Leben der Patienten, auch brachte er uns die Umstände der Patienten zur Zeit Bertas näher. Durch die großzügige Bereitstellung ihrer Akten war es uns möglich, den größten Teil von Bertas Leben zu rekonstruieren.
Während wir den Lebensweg von Berta Kettenmann erkundeten, sind unserer AG erschreckende und schöne Eindrücke im Gedächtnis geblieben. Ein Bericht eines damaligen Arztes verdeutlichte das abwertende und einseitige Menschenbild der Behörden zu dieser Zeit. Darin wurde nur Bertas gesellschaftlicher Nutzen bewertet, der Mensch Berta spielte keine Rolle. „Sie ist zu keinerlei nützlichen Arbeit zu gebrauchen“, „sie hat keine Kraft und keine Ausdauer“.
Im Gegensatz dazu steht ein Brief von älteren Damen, die vom Anblick der mit Puppen spielenden Berta so gerührt waren, dass sie ihr eine neue Puppe schenkten. Sehr positiv war das Mutter-Tochter-Verhältnis. Die Mutter bemühte sich sehr darum, Berta regelmäßig zu besuchen und holte sie so oft es ging nach Hause. Zudem erkundigte sie sich stets nach ihrem Wohlbefinden. Nachdem sie die überraschende Todesnachricht ihrer Tochter aus Grafeneck erhalten hatte, hinterfragte sie den Grund des Todes.
Euthanasie
Das Wort Euthanasie kommt aus dem Griechischen und bedeutet „guter Tod“. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde dieser Begriff verwendet, um den tausendfachen Mord an Menschen mit tatsächlichen oder angeblich unheilbaren Krankheiten und Behinderungen zu rechtfertigen. So verbreiteten die Nationalsozialisten „Kosten-Nutzen-Rechnungen“, um den durch behinderte Menschen verursachten „wirtschaftlichen Ballast“ aufzuzeigen.
Am 18. August 1939 wurden Hebammen und Ärzte verpflichtet, missgebildete Kinder zu melden. Meist wurden diese Kinder dann durch Medikamente oder Essensentzug getötet. Bald darauf begann man mit der Planung der systematischen Ermordung von Menschen. Dazu wurden spezielle Tötungsanstalten errichtet, zu denen die Patienten der umliegenden Heil- und Pflegeeinrichtungen, z.B. Stetten im Remstal, transportiert werden sollten.
Grafeneck ist der erste Ort systematisch-industrieller Ermordung im nationalsozialistischen Deutschland überhaupt. Die Opfer, Männer, Frauen und Kinder, wurden in einer Gaskammer, die als Duschraum getarnt war, durch Kohlenmonoxid vergast. 1940 wurden in Grafeneck über 10.600 Menschen ermordet.
Die Spuren der Täter und der von ihnen entwickelten Tötungsverfahren führen von Grafeneck in die Vernichtungslager im Osten: Belzec, Treblinka, Sobibor und Auschwitz-Birkenau. Die Morde wurden von den Tätern – nach dem Sitz der zentralen Planungsbehörde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin – als „Aktion T4“ getarnt. Bei dieser Aktion wurden von 1940 bis 1941 auf systematische Weise mehr als 70.000 Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung ermordet.