Ein Euthanasiefall in Böblingen
Doris Stegmaier-Theilen und Fabian Schmidt stellen als Gastautoren die "AG Stolperstein" vor und schildern uns einen Euthanasiefall in Böblingen.
Die "AG Stolperstein" des Böblinger Otto-Hahn-Gymnasiums, bestehend aus sieben Schülern der Abiturjahrgangsstufe und deren Geschichtslehrerin Doris Stegmaier-Theilen, hat zusammen mit dem Leiter des Stadtarchivs Böblingen Dr. Christoph Florian nach Opfern des Nationalsozialismus in Böblingen recherchiert, um für eines dieser Opfer und zur mahnenden Erinnerung einen "Stolperstein" zu verlegen.
Dieses Unterfangen stellte sich insofern als schwierig heraus, als im Jahr 1943 das Stadtarchiv Böblingen nach einem Bombenangriff abgebrannt ist und sehr viel Quellenmaterial dabei zerstört wurde. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage waren die Recherchen erfolgreich und es konnte ein Einzelschicksal aufgearbeitet werden.
Das Schicksal von Rudolph Heinrich Oehler
Rudolph Heinrich Oehler, geboren am 2. Oktober 1910 in Böblingen, der bis zum Jahr 1936 bei seiner Familie in Böblingen lebte, wurde im Jahr 1936 in die Behindertenanstalt Stetten im Remstal gebracht und von dort am 5. November 1940 im Rahmen der Euthanasie in die "Landespflegeanstalt" Grafeneck "verlegt". Der Ausdruck "verlegt" ist eine Verschleierung des wahren Sachverhalts und bedeutet in Wirklichkeit, dass Rudolph Oehler im Alter von 30 Jahren in der Anstalt Grafeneck noch am selben Tag, zusammen mit vielen anderen Behinderten aus anderen Anstalten vergast wurde. Den Angehörigen gegenüber wurde natürlich dieser Sachverhalt verschwiegen. Sie bekamen in der Regel "Trostbriefe", in denen ihnen eine falsche Todesursache und die sofortige Einäscherung des Verstorbenen mitgeteilt wurde.
Bild: Die Opfer der Euthanasie wurden in grauen Bussen zu ihrer Ermordung abgeholt (Quelle: Verlegt - Krankenmorde 1940-41 am Beispiel der Region Stuttgart. Hg. v. Elke Martin. Stuttgart 2011, S. 166)
"Euthanasie" - von den Nazis missbraucht
Das Wort "Euthanasie" bezeichnet eigentlich Sterbehilfe für todkranke Menschen, die nicht länger leben wollen. Wörtlich übersetzt heißt es "schöner Tod". Die Nationalsozialisten missbrauchten diesen Begriff, um ihre tausendfachen Morde an Menschen mit Behinderung als notwendigen, gnadenvollen Akt zu tarnen. Schon seit der Machtübertragung an Hitler 1933 arbeiteten sie an der "Rassenhygiene", der Reinhaltung der deutschen Rasse durch Zwangssterilisationen und Heiratsverbote.
Im Jahr 1939 ließ Hitler die Befugnisse der Ärzte so erweitern, dass sie im Zuge des "Kriegs nach innen" auch aus wirtschaftlichen Erwägungen "unheilbar Kranke" töten durften. Schon Kindern wurde in der Schule vorgerechnet, wie viel Essen ein "nutzloser Schwachsinniger" verbraucht, mit dem man gesunde Menschen hätte ernähren können. Kurz darauf begann man mit der Planung für eine systematische Ermordung von "unwerten" Menschen.
In Süddeutschland war das Schloss Grafeneck bei Münsingen auf der schwäbischen Alb ausgewählt worden, da es abgeschieden lag und über genügend Kapazitäten verfügte, um auch das Personal, das für die Taten nötig war, unterzubringen. Man leitete dort Kohlenmonoxyd in die als Duschraum getarnte Kammer, um so die eingelieferten Patienten zu vergasen. Vermutlich auch aus Testzwecken für später entstehende Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka. Bis ins Jahr 1940 wurden auf Schloss Grafeneck 10.654 Menschen ermordet
Recherchen im Stadtarchiv und in der Diakonie Stetten
Für die Recherchen waren die Schüler zunächst zusammen mit ihrer Lehrerin im Stadtarchiv Böblingen und danach gemeinsam mit Dr. Florian in der Diakonie Stetten, wo sie Einsicht in die Akten erhielten.
Die Schülergruppe war zutiefst betroffen von der Akribie, mit der die Persönlichkeit und der Aufenthalt Rudolph Oehlers dokumentiert worden war. So wird er als ruhig, gutmütig und friedliebend beschrieben, er ging gerne in die Kirche. Aufgrund seiner geistigen Behinderung und seiner Sehschwäche wurde er 1938 laut ärztlichem Zeugnis als wehruntauglich eingestuft und dies bedeutete im Zusammenhang mit seiner Behinderung sozusagen schon sein Todesurteil.
Menschen wie Rudolph Oehler waren für die Nationalsozialisten "lebensunwertes Leben" und wurden ab 1940 umgebracht. Die Morde an diesen Menschen sind ein Beispiel für die Gräueltaten des Naziregimes, sie markieren den Beginn eines beispiellosen Zivilisationsbruchs.
Die Schüler möchten mit diesem "Stolperstein" für Rudolph Oehler- dem Ersten in Böblingen - Zeugnis über diese Verbrechen ablegen und ihm eine späte Ehrung, über 70 Jahre nach seinem Tod, zukommen lassen. Und natürlich auch einen Beitrag zur Aufarbeitung der Stadtgeschichte leisten.
Für die freundliche Unterstützung der Stadt Böblingen, die hervorragende Zusammenarbeit mit Dr. Florian vom Stadtarchiv und Pfarrer Binder von der Diakonie Stetten herzlichen Dank!