Die keltische "Totenstadt"
Im folgenden Beitrag befasst sich Stadtarchivar Dr. Christoph Florian mit den vorgeschichtlichen Grabhügeln beim Böblinger Waldfriedhof.
Die Tage um den 1. November sind eine nachdenkliche und mystische Zeit. Nach christlicher Tradition ist der erste Tag des Monats der Feiertag Allerheiligen, an dem der Heiligen gedacht wird. Am Tag darauf folgt Allerseelen, das dem Gedächtnis der Toten gewidmet ist. Aus dem keltisch-irischen Kulturbereich stammt das bei uns beliebt gewordene Halloween, das den Vorabend vor Allerheiligen markiert und Anlass für ein wildes Treiben ist. Deswegen und anlässlich der Keltenausstellung im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart ist dieser Beitrag den Spuren der keltischen Totenkultur in Böblingen gewidmet.
Der älteste Friedhof der Stadt findet sich unmittelbar östlich des heutigen Waldfriedhofs.
Nach der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends wurde das Gebiet nicht mehr als Gräberfeld genutzt und geriet in Vergessenheit. Der Flurname "Brand" deutet darauf hin, dass dieses Areal dann im Mittelalter brandgerodet wurde. Vermutlich wurde es dann als Wiese genutzt, denn zumindest bei intensivem Ackerbau wären die Grabhügel zerstört worden. So werden im Lagerbuch von 1587 Wiesen „Im Branndt“ erwähnt, die bei einem gleichnamigen Waldstück lagen.
Nach über zwei Jahrtausenden weckte das Gräberfeld wieder Interesse und es fanden erstmals 1822 Ausgrabungen statt. Der spätere Verfasser der Böblinger Oberamtsbeschreibung Eduard Paulus ließ einen dieser „Todtenhügel“ öffnen. Man fand u.a. neun „Bronce-Ringe“ mit einem Durchmesser von eineinhalb „Zoll“ (ca. 4,3 cm). Bei einer späteren Hügelöffnung (1836) entdeckte man in einem Grab auch ein Keramikgefäß, das offenbar in Größe und Aussehen einer biedermeierzeitlichen Kaffeetasse ähnelte. Paulus vermutete als Erbauer die Germanen, weswegen er die Hügelgräber zu den deutschen „Alterthümern“ zählte.
Das Gebiet wird archäologisch untersucht.
Als bis 1967 der Waldfriedhof angelegt wurde und die Toten nach über zwei Jahrtausenden wieder an die alte Ruhestätte zurückkehrten, mussten einige der Hügel der neuen Anlage weichen. Es wurde daher notwendig, diese archäologisch zu untersuchen und zu dokumentieren, weswegen das Landesdenkmalamt von 1966 bis 1969 und im Jahr 1980 Grabungen durchführte. Dabei stießen die Ausgräber auf die faszinierenden Relikte uralter Epochen der Menschheitsgeschichte.
Der Archäologe Hartwig Zürn, der die erste Grabungskampagne durchführte und darüber einen Bericht fertigte, auf dem der vorliegende Artikel beruht, identifizierte insgesamt 28 Grabhügel. Die frühesten Hügel entpuppten sich als ein Werk bronzezeitlicher Siedler. Die Ausbreitung der Bronze, einer Legierung aus Kupfer und Zinn, als neuer Werkstoff an der Wende zum 2. Jahrtausend war ein Meilenstein in der menschlichen Geschichte. In Böblingen sind für die Mitte des 2. Jahrtausends erstmals bronzezeitliche Siedler nachweisbar.
Die vier nachgewiesenen mittelbronzezeitlichen Hügel (um 1.500 v. Chr.) sind linienartig angeordnet und lagen vielleicht an einem Weg, der sich am Schönbuchrand orientierte. Die Hügel hatten bis zu 13,5 m Durchmesser. In einem dieser Gräber ist ein Brandgrab nachweisbar. Zunächst war die Tote auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden und dann warf man die Erde über ihr zu einem Grabhügel auf.
Ihren Toten gaben die bronzezeitlichen Siedler Keramikgefäße und bronzene Trachtbestandteile mit. Wenn die Toten ihre Reise ins Jenseits antraten, sollten sie nicht mittellos sein. Bei dem schon erwähnten Hügel mit einem Brandgrab entdeckte Zürn die Reste von vier Pfosten. Offenbar hatten die Bewohner ein so genanntes Totenhaus errichtet, das nach der Aufbahrung der Toten verbrannt worden war. Danach war die Brandplatte mit Steinen bedeckt worden.
Nachdem das Gräberfeld von etwa 1600 bis 1200 vor unserer Zeitrechnung genutzt wurde, fanden Jahrhunderte lang keine Begräbnisse mehr statt.
Erst ab etwa 600 vor unserer Zeitrechnung fand eine neue Nutzung statt durch Angehörige einer neuen, jetzt eisenzeitlichen Kultur, der frühkeltischen Hallstattkultur. Der südwestdeutsche Raum gehörte zum Ursprungsgebiet ihrer Träger, den Kelten. Über ihren Entstehungsraum hinaus sollten sich die keltischen Sprachen in Europa verbreiten u.a. bis nach Irland.
Die keltischen Siedler errichteten im Bereich der heutigen Flur Brand mindestens 24 Grabhügel. Sie nutzten auch die vorhandenen bronzezeitlichen Hügel weiter. Das auf diese Weise entstandene Gräberfeld ist so groß, dass von einer Nekropole (griechisch Totenstadt) gesprochen werden kann. Der Durchmesser der Keltenhügel konnte mit bis zu bis zu 26 Meter den der bronzezeitlichen Hügel übertreffen. Die jetzt nicht mehr sicher feststellbare Höhe betrug mehrere Meter. Nur in einem Fall lässt sich ein hallstattzeitliches Brandgrab nachweisen, die anderen Toten wurden nicht verbrannt.
So wie sich auf dem Walsfriedhof die heutige und vorgeschichtliche Totenkultur berühren, so gab es zwischen bronzezeitlicher und keltischer Epoche Berührungspunkte.
Bei einem in der Bronzezeit errichteten Hügel gruppieren sich vier hallstattzeitliche Gräber (Nachbestattungen) kreisförmig um ein bronzezeitliches Zentralgrab. Aufgrund des zeitlichen Abstands von rund 1.000 Jahren gab es sicher keine familiären Bindungen. Darüber hinaus finden sich unter zwei Hügeln sogar die Reste einer jungsteinzeitlichen Siedlung. Einer der frühkeltischen Hügel war mit einem Menhir (länglicher aufgerichteter Stein) bedeckt und hatte das Aussehen des hier abgebildeten rekonstruierten Grabhügels. Irgendwann ist der Menhir, vielleicht durch eine Raubgrabung, in das Hügelinnere gestürzt und nach zwei Jahrtausenden wieder gefunden worden.
In einer Reihe von Gräbern konnten Holzspuren nachgewiesen werden, offenbar waren dort die Toten in hölzerne Grabkammern gelegt worden. Auch die hallstattzeitlichen Toten sollten im Jenseits nicht mittellos sein. In den Frauengräbern fanden sich Gewandspangen (Fibeln), figürlich verzierte Gürtelbleche, Arm-, Hals- und Fußringe, dazu Leibringe aus Eisen und Armketten aus Perlen sowie Schmuckgehänge aus hunderten von winzigen Glasperlen. Hingegen waren mit wenigen Ausnahmen, die durch Waffenbeigaben (Pfeilspitzen, Dolchmesser) identifizierbar sind, die Männergräber anscheinend meist beigabenlos.
Der Boden in der Flur Brand ist kalkarm. Die Skelette haben sich daher, abgesehen von gelegentlichen geringen Resten, aufgelöst. Die Toten wurden gewissermaßen eins mit dem Boden, in dem sie ruhen.