Sagenhaftes Dagersheim: Legenden und Geschichten um Böblingens Stadtteil
Mit diesem „EinBlicks in die Stadtgeschichte“ beschäftigt sich Stadtarchivar Dr. Christoph Florian mit Sagen und Legenden zu Dagersheim, das um das 6. Jahrhundert gegründet wurde und dessen Name sich auf einen Personennamen - vielleicht Thageri - zurückführen lässt.
Mit Sagen und Legenden versuchten in alten Zeiten die Menschen oft sich Dinge zu erklären, deren Sinn oder Ursprung nicht mehr bekannt war. In diesen Erzählungen finden sich neben realen Elementen auch Bestandteile alter magischer Vorstellungen. Sie wurden manchmal von Gelehrten konstruiert, manchmal entstanden sie rein mündlich. Die Geschichten wurden weitererzählt, abgeschrieben, veränderten sich und das Alter ist oft nicht mehr feststellbar.
Im Magazin des Böblinger Stadtarchivs liegt bei den Beständen aus Dagersheim ein alter Band. In altertümlicher Schrift finden sich dort zwei Abschriften eines merkwürdigen lateinischen Textes aus dem 18. Jahrhundert über die sagenhafte Gründung Dagersheims mit deutscher Übersetzung. Die nachfolgende Zusammenfassung folgt der Wiedergabe des Textes bei Dr. Roman Janssen, dem früheren Herrenberger Stadtarchivar, der diese Legende erforscht hat.
Im Jahr 9021 sollte demnach Herzog Richardus von Schwaben seinem Schwager Offo als König von England nachfolgen. Bevor er aber den Thron bestieg, musste er seinen Sitz Beutelsbach im Remstal verlassen und nach Herrenberg reisen, um seinen Onkel Graf Anselm vom Nagoldgau mit dem Herzogtamt zu betrauen. Weil auf der Böblinger Burg ein schlimmer Räuber wohnte – im Text wird der Platz als „Bublingen“, also Ort der (bösen) Buben bezeichnet – umgingen Richardus und seine Leute heimlich in der Nacht diese Stelle. Das Gebiet, das sie dabei durchritten, bekam in der Folge den Namen Sindelfingen, der sich von „der Sind (Weg) ist fonden“ – sprich der richtige Weg wurde gefunden – ableiten soll.
Am folgenden Morgen erreichte die Gruppe ein schönes Tal
Erfreut über die überstandene Gefahr und den neu anbrechenden Tag nannten sie die Stelle, wo sie ein Wasser namens „Schwipffer“ (Schwippe) überschritten, „Tag her schain“ (Tag erschein). Im Fluss jedoch lebten „Schlangen, Krotten (Kröten), Eydechsen und andere kriechende ohnraine Thier“, wie es in der deutschen Übersetzung heißt. Der Herzog und seine Gefolgsleute betrachteten dies als ein schlechtes Vorzeichen und gelobten, dem Heiligen Fridolin („heyligen Fridlin“) eine Kapelle zu bauen, wenn er dieses Gewürm fortschaffte. So geschah es und das Getier wurde nicht mehr gesehen. Richardus blieb dann so lange am dem schönen Ort, bis ihn Graf Anselmus abholte und nach Herrenberg geleitete. Zuvor verlieh der Herzog dem Dorf noch ein Wappen, worauf eine Schlange und ein Morgenstern abgebildet waren. Soweit die Legende über die Entstehung des Dagersheimer Ortsnamens und Wappens.
Die nachstehenden Ausführungen folgen ebenfalls Roman Jannssen, der bei der Erforschung der seltsamen Geschichte Erstaunliches herausgefunden hat. Die Geschichte ist in einer Handschrift aus der Zeit um 1500 (Landesbibliothek Stuttgart) und weiteren Abschriften, darunter den zwei im Stadtarchiv, überliefert. Diese Abschriften lassen sich auf eine ältere Vorlage zurückführen, wobei die Exemplare im Böblinger Stadtarchiv dieser Vorlage am nächsten sind.
Bei dieser Geschichte handelt es sich nicht um eine Sage aus grauer Vorzeit
Vielmehr hat Johannes Stadler, ein Geistlicher der Diözese Eichstätten (Bayern), sie im 15. Jahrhundert erfunden. Die Geschichte sollte nach Janssen die Entstehung des in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts geschaffenen Dagersheimer Ortswappens und Siegels erklären, das eines der ältesten Gemeindewappen im Land ist. Sie deutet die Wappenelemente Schlange (Schlangenwunder), Morgenstern (Tag erschein) und die drei gestürzten Spitzen (Dagersheim zwischen Böblingen und Sindelfingen). Vielleicht gab es bei der Schlangengeschichte einen Bezug zu älteren Darstellungen des Heiligen Fridolin und Magnus in der Dagersheimer Kirche, die mit Schlangen abgebildet waren. Bei der Entstehung der Bezeichnung von Böblingen, Sindelfingen und Dagersheim wird der Verfasser auf schon vorhandene Deutungen der Ortsnamen bzw. schon bestehende Necknamen zurückgegriffen haben.
Als Rahmenerzählung verwendete Stadler die Motive einer zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Eichstätt aufgezeichnete Legende des Heiligen Richard. Um das Ortswappen erklären zu können, ließ er Richard dann über Sindelfingen und Dagersheim nach Herrenberg reiten.
Der Autor ging mit Humor und Sorgfalt an die Sache. Er fabrizierte einen Text und versah ihn mit Fehlern, um ihn altertümlich erscheinen zu lassen und ihn zugleich als „Gelehrtenscherz“ zu kennzeichnen. Manches ist dabei offensichtlich: Die Zahl 2091 z.B. kann als Kombination der vollkommenen Zahlen 3 und 10 sowie der heiligen Zahl 7 interpretiert werden. Und statt dem richtigen "Suevia", dem lateinischen Begriff für Schwaben, schrieb er „Scheuvia“.
Sagensammlung "Häseltrog"
Es gibt aber auch noch andere Sagen um Dagersheim, die sich in der von Eberhard Benz zusammengestellten Sammlung „Der Häseltrog“ finden. Eine weitere Gründungssage von Dagersheim („Die beiden Schwippen“), die auf übergeordnete,tatsächliche historische Vorgänge Bezug nimmt und sie mit erfundenen ortsgeschichtlichen Ereignissen ergänzt, spielt in der Zeit König Sigiberts I. (561 bis 575). Sigibert war Herrscher eines Teils des Fränkischen Reichs (Austrasien).
Der Erzählung nach siedelte der König, der auch Herr von Schwaben war, in seiner nach einem Krieg verwüsteten Provinz Champagne (Nordostfrankreich) Bewohner an, die aus Dörfern im Schwippetal - darunter Ensingen und Welblingen - stammten. Ein kleiner Fluss in der Champagne heißt seitdem in Erinnerung an die heimatliche Schwippe „la Suippe“. Das Schwippetal selbst wurde dadurch menschenleer. Erst nach dem Ende des Ostgotenkrieges (562) in Italien kamen Krieger, die im Dienst des Ostgotenkönigs gestanden hatten, zurück. Sie siedelten sich an der Stelle des ehemaligen Ortes Welblingen an. Die neu entstandenen Dörfer bekamen die gotischen Namen Dagersheim und Darmsheim, deren Bedeutung jedoch nicht bekannt sei.
Eberhard Benz liefert keine Interpretation der Sage, doch soll die Erzählung neben der Gründung von Dagersheim die Geschichte einiger Siedlungen im Schwippetal wie Welblingen (ehemals bei Döffingen) erklären, welche aus anderen Gründen viel später im Mittelalter aufgegeben wurden und seitdem nur noch in der Erinnerung der Talbewohner existierten.
"Der Müllerstein bei Dagersheim"
Die letzte Sage mit dem Titel „Der Müllerstein bei Dagersheim“ versucht die Existenz eines großen, einem Mehlsack ähnlichen Steins zu erklären, der einstmals dort stand, wo die Rheinstraße den Ochsenweg kreuzte. Ein Müllerknecht soll damals von der Altdorfer Mühle in Richtung Heimsheim gefahren sein. Als er sich nahe der Hulb befand, entstand an diesem windstillen Tag auf einmal ein Wirbelwind, die beiden Pferde scheuten und rissen den Wagen in den moorigen Grund. Schuld war natürlich der tückische Riedgeist, er hatte die Pferde verzaubert. Schnell griff sich der lästige Geist den obersten Mehlsack, ließ ihn auf den Boden fallen und verzauberte ihn zu einem großen Stein, der seitdem Müllerstein genannt wird.