25 Jahre Städtepartnerschaft: So aufregend fing alles an
Im März 1988 fuhr erstmals eine offizielle Delegation aus Böblingen, bestehend aus den Gemeinderatsmitgliedern Waltraud Gmelin, Richard Schüle, Hermann Rothfuß und Claudius Ziehr, Alt-Oberbürgermeister Alexander Vogelgsang, dem damaligen Hauptamtsleiter Dieter Krug und Fahrer Emil Täffler in die DDR-Stadt Sömmerda, um die ersten Vorverhandlungen zum Abschluss einer Städtepartnerschaft zu führen. Die langjährig aktiven Stadträte Waltraud Gmelin und Richard Schüle erinnern sich an die erste Reise nach Sömmerda mit vielen unbekannten Vorzeichen.
"Zunächst war die DDR, trotz unserer vielfältigen Auslandserfahrungen, für uns alle ein eher unbekanntes, noch fremdes Land und die Anspannung und Neugier waren groß. Schon die Einreise in die DDR war mit Unbehagen behaftet, wir wollten natürlich nichts falsch machen und unsere „Mission“ nicht gefährden. Wir fuhren mit zwei städtischen Dienstwagen und konnten letztendlich doch relativ problemlos einreisen. Vermutlich war unser Besuch bei „höchster Stelle“ angemeldet. Der erste Eindruck nach dem Passieren der Grenze war winterlich grau, recht trist, es gab kaum Reklame und es ging langsam voran in Richtung Sömmerda, so dass wir müde und hungrig ankamen.
Der damalige Bürgermeister Manfred Hölzer empfing uns mit seiner offiziellen Delegation vor dem historischen Rathaus und auch den Kollegen dort war die Aufregung und Anspannung anzumerken. Unsere beiden schönen „Nobelkarossen des Westens“ wurden sofort in irgendwelchen Garagen verstaut, von da an bewegten wir uns nur noch mit den ortsüblichen und weniger auffälligen Fahrzeugen Trabant oder Wartburg der Stadt Sömmerda fort.
Im Dienstzimmer von Bürgermeister Manfred Hölzer fand die erste Kontaktaufnahme statt und wir waren doch sehr überrascht und zugleich etwas überrumpelt, als wir erfuhren, dass er die heiklen Vertragsverhandlungen noch auf den Ankunftsabend vorziehen wollte. Zunächst konnten wir unsere Zimmer im eigens für uns frei geräumten Stockwerk der „Hoteletage“ der Stadt Sömmerda beziehen, wo sowohl für die männlichen Teilnehmer, als auch für den einzigen weiblichen Gast Waltraud Gmelin jeweils extra eine Betreuungskraft abgestellt war, die angeblich für unsere Sicherheit sorgen sollte. Wir fühlten uns doch eher beaufsichtigt und überwacht. Die Werksbesichtigung des für Sömmerda so bedeutenden Büromaschinenwerks Robotron stand ebenfalls noch an. Bei dieser Besichtigung wurde uns deutlich, dass es zu dieser Zeit bereits gewaltige West-Ost-Unterschiede in den Fertigungsstätten gab. Die Produktion lief dort Ende der 80er Jahre noch mit sehr viel Handarbeit und war nicht zu vergleichen mit den Abläufen und Standards bei IBM oder HP in Böblingen.
Beim ersten gemeinsamen Abendessen mit leckeren thüringischen Rostbratwürsten und den typischen Brätel fanden wir auch eine große Menge von Gläsern für allerlei alkoholische Getränke vor. Aber wir Böblinger waren uns sofort einig, dass wir keinen Tropfen Alkohol anrühren würden, damit wir alle bei klarem Kopf diese nächtlichen und kniffligen Verhandlungen durchstehen würden. Das war auch gut so. Nach einer netten Gesangseinlage des Sömmerschen Männerchors ging es dann ab kurz vor 22.00 Uhr bis weit in die Morgenstunden mit den äußerst zähen Verhandlungen beider Gruppen zu den Grundsätzen der künftigen Städtepartnerschaft los. Es wurde beiderseits gefeilscht um politische Auslegungen. Nicht nur rein linientreue Formulierungen, alle kleinsten Details bis hin zur „reinen Wortklauberei“ wurden erörtert. Auffallend war, dass jedes Mal, wenn eine passende Formulierung gefunden war, eine Dame aus dem Verhandlungszimmer ging und erst kurze Zeit später diese Formulierung dann von Sömmerdaer Seite aus endgültig akzeptiert wurde. Vermutlich saßen im Nebenzimmer höherrangige Personen, mit denen die Formulierungen des Vertrags abgestimmt werden mussten. Immer im Vordergrund sollte die friedliche Zusammenarbeit und die friedliche Zukunft beider deutschen Staaten stehen. Hauptsächlich politisch geprägte Satzteile mussten eingearbeitet werden, wir aber wollten die Möglichkeiten zu lockeren und möglichst unpolitischen Begegnungen der örtlichen Vereine, Jugendgruppen und Bürger erreichen, wie bis dahin schon üblich mit unseren anderen langjährigen Partnerstädten.
Heute ist diese für uns so komplizierte und etwas beklemmende Situation kaum noch nachvollziehbar. Jeder hatte Angst vor einem nicht wieder gut zu machenden Fauxpas. Wir Böblinger waren jedenfalls äußerst froh, als wir ein beiderseitig akzeptierten Partnerschaftsvertrag ausgehandelt hatten und auch die Daten der jeweiligen Ratifizierung am 16. Mai 1988 in Sömmerda und am 20. Juni 1988 in Böblingen endlich feststanden.
Erste private Gespräche ergaben sich dann am nächsten Tag bei verschiedenen Besichtigungen und einem informativen Stadtspaziergang. Diejenigen, mit denen wir ein paar persönliche Worte wechseln konnten, äußerten zumeist als größten Herzenswunsch, den Besuch bei Freunden und Verwandten im Westen oder wenigstens den Ausflug nach West-Berlin. Auch zwischen den beiden Bürgermeistern konnte man erste persönliche Sympathien entdecken, die für die künftige Ausgestaltung der Städtepartnerschaft wichtig waren. Bei einem öffentlichen Pressegespräch durfte jeder von uns ein erstes Statement zur neuen Städtepartnerschaft abgeben.
Alles in allem waren für uns diese ersten drei Tage in Sömmerda wirklich anstrengend und nervenaufreibend. Erst als wir schlussendlich wieder auf der Rückfahrt nach Böblingen waren, ergab sich eine gelöste, ja fast euphorische Stimmung, da uns bewusst wurde, in dieser schwierigen Zeit etwas ganz Besonderes geschafft zu haben. Wir hatten viele neue Eindrücke über die Situation in der damaligen DDR gewinnen können und waren sehr froh, am ersten Schritt eines neuen Kapitels der deutsch-deutschen Zusammenarbeit beteiligt gewesen zu sein. Niemand von uns konnte damals ahnen, dass es nur rund eineinhalb Jahre später zum Fall der Mauer und wenig später zur deutschen Wiedervereinigung kommen sollte. Vielleicht hat ja unsere Reise und die neuen Bande zwischen Sömmerda und Böblingen, die sich in den nachfolgenden 25 Jahren in Frieden und Freiheit vorbildlich entwickeln konnten, ein klein wenig zu diesem insgesamt historischen Ereignis der Wende beigetragen.“
Waltraud Gmelin und Richard Schüle