Visitationen in Dagersheim
In diesem "EinBlick in die Stadtgeschichte" befasst sich Stadtarchivar Dr. Christoph Florian mit Visitationsberichten über Dagersheim aus den Jahren 1760 und 1763. Diese Berichte enthalten interessante historische Informationen über Böblingens Stadtteil.
Visitation bedeutet im weitesten Sinne Kontrollbesuch oder Bestandsaufnahme. Solche Bestandsaufnahmen wurden auch im Württemberg des 18. Jahrhunderts in den einzelnen Kirchengemeinden durchgeführt. Dabei wurden nicht nur der Pfarrer und seine Helfer kontrolliert, auch das gesellschaftliche Verhalten der Kirchengemeindemitglieder wurde überprüft.
Ein kurzer Blick auf die damalige württembergische Gemeindeverfassung zeigt, dass das Gericht das zentrale Organ der dörflichen Verwaltung war. Es hatte sowohl die Aufgaben eines Dorfgerichts als auch eines kommunalen Selbstverwaltungsorgans inne. Den zwölf Richtern als rein kommunale Vertreter stand der Schultheiß gegenüber. Er vertrat den Staat gegenüber den Dorfbewohnern und zugleich die Interessen des Dorfs gegen den Staat. Der Ortspfarrer wiederum war zugleich das Haupt der Kirchengemeinde und staatlicher Vertreter und auch Vorgesetzter des Dorfschullehrers.
Gemischte Gefühle
Visitationen wurden erst kurz vorher bekannt gemacht. In Dagersheim war die für den 13. Juni 1760 vorgesehene Visitation erst am 7. Juni angekündigt worden. Pfarrer, Lehrer und Schultheiß werden aus den genannten Gründen vielleicht mit gemischten Gefühlen der Visitation entgegen gesehen haben. Durchgeführt wurde sie von Spezial (d. h. Dekan) Johann Christoph I. Schmidlin aus Böblingen. Der 29 Jahre alte Dagersheimer Pfarrer Christian Gottfried Hoffmann hatte schon ein Schriftstück vorbereitet, das auf die Fragen einging, und der Visitator trug dazu seine Randbemerkungen ein. Diese Unterlagen liegen jetzt im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart.
Die Zählung der Gläubigen ergab 618 Bewohner evangelischer Konfession. Angehörige anderer Konfessionen gab es nicht. Zum Vergleich: Böblingen hatte damals 1.406 Bewohner. Die Dagersheimer Gesamtbevölkerung setzte sich aus 112 Infantes (Kleinkinder), 98 Katechumen (Schüler) sowie 407 Kommunikanten (Erwachsene) zusammen. Die „Simplices“, die geistig Behinderten, wurden gesondert gezählt, es gab einen. Es war der Sohn des Schultheißen, der wie der Schmidlin notierte, „fleissig in die Kirche gehet“. 25 Personen waren innerhalb des abgelaufenen Jahres gestorben, davon vier Erwachsene und die erschreckend hohe Zahl von 21 Kindern. Die Zahl der Geburten betrug 37, davon 23 Jungen und 14 Mädchen. Das bedeutete ein beeindruckendes Bevölkerungswachstum von rund zwei Prozent.
Nicht zufrieden war der Pfarrer mit seinem Pfarrhaus, es war „aber wirckl[ich] abgängig und in schlechtem Stand“. Nicht nur das Pfarrhaus, auch Pfarrer Hoffmann selbst gab Anlass zur Kritik. Der Visitator war von den Qualitäten des Seelsorgers nicht ganz überzeugt. So erinnerte er den Pfarrer, dass „das Betragen mit denen Zuhörern demüthiger und liebreicher werden“ müsse. Hoffmann fand offenbar nicht den richtigen Zugang zu seiner Gemeinde. Es wurde auch Klage geführt, dass zu lange geläutet würde. Dann hatte sich Hoffmann auch „etliche mahl mit Trunckenheit übersehen“. Doch fand er für seine alkoholbedingten Ausfälle eine zufriedenstellende Erklärung, denn der Visitator schrieb, dass er sich „fein zu entschuldigen gewußt“.
Der „Ludi Magister“
Besser sah es beim „Ludi Magister“, dem Dorschullehrer, aus. Georg Heinrich Kolb, der Großvater des berühmten Immanuel Gottlieb Kolb, war 39 Jahre alt und gelernter Zeugmacher, wobei er das Gewerbe kaum ausübte. Zufrieden vermerkte der Spezial: " [...] Fleiß im Amt und Zucht in der Schuhle gut“. Auch der Pfarrer und die Gemeinde waren von ihrem Schulmeister angetan und die Schüler erreichten bei der Prüfung anlässlich der Visitation gute Ergebnisse. Dies war recht bemerkenswert, unterrichtete Kolb doch zusammen mit dem Provisor (Hilfslehrer) im Winter 98 und im Sommer 84 Kinder. Der Provisor, der 19 Jahre alte Friedrich David Sauer, war noch sehr schüchtern und hatte wenig Erfahrung, doch war er fleißig und gab zu besten Hoffnungen Anlass.
Die Seelsorge lief offenbar reibungslos. Die Kirchenbücher wurden ordentlich geführt und die Einnahmen und Ausgaben der Ortskirche korrekt verrechnet und verbucht. Das Kirchengebäude, die Glocken, die Kirchturmuhr und die „Vasa Sacra“, das liturgische Gerät, sowie der Kirchhof waren in Ordnung. Erleichtert konnte der Pfarrer dem Spezial melden, dass „kein Lehrjunge an andere Religionsverwandte [z.B. Katholiken] gegeben, noch Gesind von Ihm angenommen“ war. Es war also nicht zu befürchten, dass auf diese Weise eines der Schäfchen an die kirchliche Konkurrenz verloren ging.
Als Vertreter der Staatskirche waren dem Visitator Aktivitäten von Gläubigen außerhalb der Kirche bei aller Anerkenntnis der Motive suspekt. In Dagersheim hatten sich eine Zeit lang Bewohner nach der Abendkirche an Sonn- und Feiertagen versammelt. Doch auch hier gab es Entwarnung, denn es handelte sich nur um ein Häufchen von sechs Personen, die private Glaubensarbeit betrieben. Der Pfarrer konnte ja nicht ahnen, dass die pietistische Bewegung in Dagersheim immer stärker und mit dem Enkel des tüchtigen Schulmeisters als Wegbereiter im 19. Jahrhundert die bestimmende geistige Kraft werden würde.
Der Pfarrer schrieb auch: „den Zustand der Hertzen in der Gemeinde kennt der Herr am besten“. Doch auch hier konnte er „Gott sey Danck!“ zufrieden sein, denn in Dagersheim kam der „Seegen deß Worts durch Wachsthum in dem Guten“ zum Vorschein. Auch die weltliche Obrigkeit machte besten Eindruck. Schultheiß Wendel Ziegler war im Gottesdienst und im alltäglichen Leben ein "Exempel" (Vorbild). Auch die Richter gingen zum Gottesdienst und waren „meistens erbar“.
Nach Beendigung der Visitation wird der Schmidlin wohl voller Zufriedenheit diesen unkomplizierten Ort verlassen haben. Ein paar kleine Unstimmigkeiten gab es zu regeln, das war es aber auch.
Ein katholischer Schäferknecht
Als unser Spezial drei Jahre später Dagersheim wieder visitierte, wies die Idylle einige Sprünge auf. Es gab jetzt nämlich einen Katholiken im Ort. Es handelte sich dabei um einen Schäferknecht, der sich jedoch still und unauffällig benahm und, wenn es ihm möglich war, auch den evangelischen Gottesdienst besuchte.
Dann gab es einen „Spötter und Verächter der heiligen Sacramente“. Johann Georg Danecker, so hieß er, war schon zweimal wegen Diebstahl im Zucht- und Arbeitshaus gesessen und wurde neuer Delikte bezichtigt. Zu seinem eigenen Vorteil war er „flüchtigen Fusses“ und für die Justiz nicht greifbar. Dann war auch noch die Hebamme Barbara Reichlin, die eigentlich ihre ältere Kollegin unterstützen sollte, von „einer melancholischen Kranckheit, die sie ihres Verstandes und ihrer Sinnen beraubte, überfallen“ worden. Es handelte sich offenbar um eine schwere Depression, welche die bedauernswerte Hebamme dauerhaft arbeitsunfähig machte.
Die Visitation war – abschließend betrachtet – ein Mittel des Staates, um möglichst viele Untertanen möglichst genau zu kontrollieren. Andererseits unterstanden z. B. die Schulen dadurch einer ständigen Leistungskontrolle, wodurch ihr Niveau gehoben wurde. Auch konnten z. B. die Gläubigen Kritik anbringen oder die Amtsinhaber (Pfarrer, Lehrer) eine Verbesserung der Unterbringung fordern.