Von meinem Böblingen nehme ich nicht mit leichtem Herzen Abschied: Zum 200. Geburtstag von Karl Gerok

Gastautor Dr. Günter Scholz, bis 2005 Leiter des Amtes für Kultur und Museumsleiter in Böblingen, schreibt in dieser Ausgabe des "EinBlicks in die Stadtgeschichte" über eine ganz besonders interessante Persönlichkeit - den württembergischen Theologen und Lyriker Karl Gerok.

Am 30. Januar 2015 jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag von Karl Gerok. An den evangelischen Theologen und Dichter erinnert in Böblingen heute der Karl-Gerok-Weg. Mit unserer Stadt ist Geroks Leben eng verbunden. Von 1844 bis 1849 war er Diakon an der Stadtkirche.

Geboren wurde Karl Gerok in Vaihingen an der Enz. Er entstammte württembergischen Pfarrhäusern. Seine Großväter wirkten als Pfarrer in Ofterdingen und Öschingen bei Tübingen, sein Vater war Dekan in Stuttgart. Nach seinem Privatunterricht besuchte Gerok das renommierte Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart. Gustav Schwab, bekannt durch seine „Schönsten Sagen des klassischen Altertums“, zählte zu seinen Lehrern. Ab 1832 studierte Gerok am traditionsreichen Tübinger Stift Theologie. Samstagabends waren dort „geröstete Erdbirnen und Leberwürste das Stiftsessen,“ erinnerte er sich später. Nach dem Examen wurde er Pfarrvikar in Stuttgart und die Stadt wuchs ihm ans Herz.

Diakon in Böblingen

Im Jahr 1844 wurde er nach Böblingen versetzt: „Unversehens fand ich mich auf das Diakonat Böblingen ernannt. Der erste Eindruck war eine Art von Schreck, denn obwohl ich das 28. Lebensjahr hinter mir hatte, fiel mir die Verantwortung einer selbstständigen geistlichen Amtsführung fast beengend auf Herz und Gewissen.“ Böblingen war damals Oberamtsstadt mit gerade einmal 3.500 Einwohnern, noch von der Landwirtschaft geprägt. Die Industrie hatte erst zaghaft Einzug gehalten.

Der Diakon lebte im heutigen Dekanat am Schloßberg. Der benachbarte, damals noch erhaltene Südflügel des Böblinger Schlosses war ein frühes „Schulzentrum“. Humorvoll beschrieb Karl Gerok die Einschulungen: „Während ich als junger Diakonus in dem Landstädtchen Böblingen wenige Schritte vom Schulhaus wohnte, das in einem stehengebliebenen Flügel des alten Grafenschlosses eingerichtet war, diente es zu einem tragikomischen Schauspiel, wenn im Frühling die kleinen Schulrekruten von den sorgsamen Müttern eingeliefert wurden. Die einen marschierten mutig einher, wie das Füllen zum ersten Mal an der Wagendeichsel mitläuft, stolz auf die neue Fibel und Schiefertafel. Andere trippelten in ahnungsloser Ergebung, wie das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, der verhängnisvollen Pforte entgegen. Noch andere wurden schreiend und sich sperrend gleich jungen Spanferkeln vorwärts getrieben und gezogen.“

In den nüchternen Böblinger Alltag brachte im Hunger- und Unruhejahr 1847 ein Besuch des württembergischen Königs Wilhelm I. etwas Glanz: „In dieser Woche ist Böblingen Heil widerfahren: unser in Ehrfurcht geliebter König ist durch unsere Mauern gekommen.“ Gerok wunderte sich, dass der Monarch keine Krone, sondern nur eine Kappe trug. Auch die Revolution von 1848 erlebte der Diakon hautnah. Sie verlief in Böblingen eher gemäßigt. Doch auf dem Wochenmarkt sei es zu Hamsterkäufen gekommen. Er selbst hielt am 27. September 1848 „zum Fest der Fahnenweihe eine Rede mit möglichster schwarzrotgoldener, konservativ liberaler Begeisterung, die denn auch wirklich Anklang gefunden hat.“

Am Anfang seiner Böblinger Zeit hatte Gerok seine Frau Sofie, geborene Kapf aus Tübingen, geheiratet. 1845 wurde der erste Sohn geboren. Böblingen wurde auch prägend für Geroks theologische Entwicklung. 1847 verfasste er die Abhandlung „Unser theologischer Nachwuchs“. In der programmatischen Schrift war ihm die Praxisorientierung der angehenden Pfarrer ein besonderes Anliegen. Sein Rat an die angehenden Pfarrer: „Du sollst helfend eingreifen ins soziale Leben; für die Armen mitsorgen, die Verwahrlosten mitberaten, die dämonischen Gelüste des Proletariats bändigen helfen. Da wirst du einsehen, dass das Christentum nicht nur Wissen ist, sondern Leben; dass zum Theologen nicht nur Kopf gehört, sondern auch Herz.“

Als Karl Gerok Böblingen im Jahr 1849 verließ, schrieb er: „Von meinem Böblingen nehm ich doch nicht mit so leichtem Herzen Abschied, wie ich geglaubt hätte. Ich lasse immer ein Stück Leben, wohl auch den Rest meiner Jugend hier […] Wieviel Segen hab ich hier erfahren, manche ernste Erfahrung auch hab ich gemacht; manche Seifenblase ist zerplatzt; ein Jüngling kam, ein Mann geht.“

Die Böblinger Jahre waren wegweisend für seine weitere Entwicklung. Er ging zurück nach Stuttgart. Seit 1868 war er Oberhofprediger und scharte als begnadeter Kanzelredner die Zuhörer um sich. Im Jahr 1890 starb er und wurde auf dem Stuttgarter Pragfriedhof beigesetzt.

Naturliebe und Poesie

Karl Gerok wurde Zeuge der rasanten Veränderungen des Industriezeitalters mit Fabriken, Eisenbahnen und der Zersiedelung der Landschaft. Mit Nostalgie erinnerte er sich an die Kutschfahrten, die er als Kind von Stuttgart nach Ofterdingen gemacht hatte: „Die langsame Fahrt über die sieben Berge zunächst bis zur Universitätsstadt Tübingen. Das war noch Poesie des Reisens, statt dass man jetzt wie ein Ballen Gepäck hilflos, freudlos, gefühl- und gedankenlos im Eisenbahnwagen spediert wird.“

Gerok war einer der beliebtesten Dichter seiner Zeit. Seine Gedichtsammlung „Palmblätter“ (1857) mit religiösen Liedern wurde zum Bestseller. Gustav Schwab stellte ihn Uhland und Mörike an die Seite. Heute ist er als Dichter vergessen. Dabei hat er einfühlsame Schilderungen von Natur und Landschaft des Schwabenlands am Vorabend der Industrialisierung hinterlassen. Besonders beeindruckt war er z.B. von der Aussicht, die Schloss Lichtenstein bot: „Da lag sie, die Zauberlandschaft und das weite gesegnete Land mit seinen grünen Angern und lachenden Dörfern und den silbernen Bändern der Bäche, und den Bergen und Fruchtfeldern und der Achalm.“ Ein Idyll war Ofterdingen im Steinlachtal mit dem Pfarrhaus des Großvaters: „Schon der Hof hinter dem Haus hatte seine Merkwürdigkeiten. Da hausten die geschäftigen Hühner und schnatternden Gänse. Da grunzten hinter ihren säuerlich duftenden Koben die Schweine, manch vergnügte sich an dem Schauspiel und dem melodischen Taktschlag des Dreschens.“

Die Amtsblattredaktion bedankt sich herzlich bei Dr. Günter Scholz für diesen „EinBlick in die Stadtgeschichte“.

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